Ein Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden

„Weichenstellung für eine neue OMV“

Ein Gespräch mit Rainer Seele, Vorstandsvorsitzender und Generaldirektor der OMV

Herr Seele, wenn Sie ganz schnell drei Begriffe zum Jahr 2020 nennen müssen, was fällt Ihnen ein?

Pandemie. Erfolg. Nachhaltigkeit. Und Dankbarkeit.

Das ist eine ungewöhnliche Kombination.

Ich erkläre gerne, warum ich diese drei Begriffe und auch noch einen vierten wähle. Das Thema Pandemie liegt auf der Hand. Das Coronavirus hat mit seinen gravierenden globalen Auswirkungen auf Individuum, Wirtschaft und Gesellschaft auch die OMV vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Es hat aber „auch“ und nicht „nur“ uns betroffen, niemand blieb hier unberührt, weshalb ich die Pandemie nur erwähne, um die Rahmenbedingungen zu definieren.

Dann käme schon der weniger erwartete Begriff „Erfolg“.

Exakt. Und den habe ich ganz bewusst gewählt. Weil die OMV auf 2020 wirklich stolz sein kann. In einem Jahr, das für uns alle und für die ganze Weltwirtschaft das wohl schwierigste seit Jahrzehnten war, haben wir nicht nur in unserem operativen Geschäft unsere Klasse bewiesen. Zugleich haben wir die Weichen für eine neue OMV mit einem nachhaltigen Geschäftsmodell gestellt.

Beginnen wir mit dem operativen Geschäft. Das makroökonomische Umfeld war ja nicht gerade rosig …

Das würde ich als Euphemismus bezeichnen. In Wirklichkeit haben wir in einem anfänglich normalen ersten Quartal gesehen, wie plötzlich alle Pfeile um uns – mit Ausnahme jener der Infektionszahlen – nach unten gezeigt haben. Die weltweite Ölnachfrage ist gegenüber 2019 um 8 Prozent eingebrochen, die fehlende Einigung der OPEC+-Staaten über Förderquoten hat zu einem erheblichen Überangebot geführt. Resultat war ein deutlicher Rückgang der Ölpreisnotierungen. Der Brent-Preis fiel in nur drei Monaten von knapp 70 Dollar auf ein 21-Jahres-Tief von rund 13 Dollar pro Barrel. Im Gesamtjahr lag der Preis im Durchschnitt bei knapp 42 Dollar pro Barrel – ein Rückgang von 35 Prozent. Der durchschnittliche Gaspreis am Central European Gas Hub lag mit 10 Euro pro Megawattstunde um 32 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres. Im Downstream-Geschäft war das Bild zweigeteilt. Während die Raffineriemarge mit durchschnittlich 2,4 Dollar pro Barrel um 45 Prozent unter dem Vorjahr lag, war die Entwicklung im Petrochemiegeschäft noch relativ stabil.

Wie reagiert man als Konzern auf so ein Krisenumfeld?

Wir haben sehr rasch mit einem Maßnahmenplan reagiert, der eine Reduktion der Kosten und organischen Investitionen vorsah. Vor allem aber haben wir einen entscheidenden Vorteil: Als OMV stehen wir auf zwei starken Beinen und können damit auch bei einem so heftigen Konjunktur-Gegenwind sicheren Schrittes gehen. Unser integriertes Geschäftsmodell mit seinem diversifizierten Portfolio bewies einmal mehr seine Werthaltigkeit, indem es die volle Wucht der negativen Markteffekte teilweise dämpfen konnte. Naturgemäß war Upstream stark vom massiven Öl- und Gaspreisverfall und auch von Produktionsausfällen in Libyen betroffen. Trotz der widrigen Umstände konnten wir aber die Produktionskosten auf dem niedrigen Vorjahresniveau von 6,6 Dollar pro Barrel halten. Downstream konnte hingegen höhere Verkaufsmengen im Petrochemiegeschäft erzielen und außerdem ein dank höherer Margen starkes Retail-Geschäft sowie beachtliche Mengenzuwächse und Ertragssteigerungen im Erdgashandel verzeichnen. Das Gasgeschäft hat seinen Ergebnisbeitrag mit 337 Millionen Euro im Jahresvergleich um mehr als 70 Prozent gesteigert. Das ist nicht zuletzt aufgrund gestiegener Verkaufsmengen und Marktanteile – insbesondere in Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Österreich – gelungen.

Rainer Seele, Vorstandsvorsitzender und Generaldirektor (Foto)

»Natürlich müssen wir alles tun, um ein Maximum an ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit zu gewährleisten.«

RAINER SEELE
Vorstandsvorsitzender

Und das OMV Geschäftsfeld der Zukunft „Chemie“?

Selbstverständlich war auch das Chemiegeschäft von den negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen. Trotzdem konnte der gesamte Polyolefinabsatz im Jahresvergleich sogar leicht gesteigert werden. Die Borealis-Gruppe erwirtschaftete damit nicht nur ein solides Ergebnis, sondern auch einen starken operativen Cashflow, der mit 1,6 Milliarden Euro leicht über dem Vorjahresniveau lag.

„Selbst in der Krise: jedes Quartal profitabel.“

Das heißt, die OMV ist trotz Krise beweglich geblieben?

Ja. Das zeigte sich auch an der stabilen Entwicklung beim Cashflow. Der operative Cashflow des OMV Konzerns ging im Jahresvergleich zwar um 23 Prozent zurück, war mit 3,1 Milliarden Euro aber nach wie vor äußerst solide. Besonders erfreulich ist, dass wir in jedem einzelnen Quartal ein positives bereinigtes Ergebnis erzielen konnten. Und so haben wir für das Gesamtjahr ein von soliden 1,7 Milliarden Euro erwirtschaftet.

Das bedeutet für die Aktionärinnen und Aktionäre?

Es bedeutet, dass sich die OMV weiterhin durch solide Ertragskraft auszeichnet und dies auch durch eine attraktive Dividende ausdrücken kann. Der Vorstand hat beschlossen, dem Aufsichtsrat und der Hauptversammlung eine erhöhte Dividende von 1 Euro und 85 Cent pro Aktie vorzuschlagen.

Kommen wir von der operativen zur strategischen Seite.

Ich bin überzeugt, dass 2020 in den Annalen der OMV nicht als das Jahr der Pandemie, sondern als das Jahr einer grundlegenden Weichenstellung vermerkt sein wird. Wir haben mit der Übernahme des Mehrheitsanteils an Borealis die strategischen Weichen für eine neue OMV gestellt. Eine OMV, die größer, stabiler und nachhaltiger sein wird. Gemessen am Umsatz der vergangenen Jahre sind wir mit der Transaktion bereits jetzt um etwa ein Drittel gewachsen. Wir werden aber auch weiterwachsen, weil die OMV mit einem starken Chemiebereich für die Marktanforderungen einer künftig CO2-ärmeren Welt gut und richtig aufgestellt ist. Die hochwertigen Kunststoffe, die für Solaranlagen und Windräder, für Stromnetze und digitale Steuerungen oder für Leichtbauteile im Transportbereich dringend benötigt werden, sind hier nur einige Beispiele.

Verabschiedet sich die OMV damit von Herkunft und Vergangenheit?

Keinesfalls. Auch die neue OMV wird ein integriertes Unternehmen sein, das entlang der gesamten Wertschöpfungskette starke Erträge erwirtschaftet. In den Segmenten Exploration & Production, Refining & Marketing und Chemicals & Materials. Wir werden unsere Wurzeln behalten und pflegen und alleine in Österreich bis 2025 rund 3 Milliarden Euro investieren. In die sorgsame und effiziente Nutzung der heimischen Öl- und Gasreserven, in neue Energieformen, in die Optimierung petrochemischer Anlagen in der Raffinerie Schwechat und in die Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft.

Die Vorwärtsintegration in die Chemie bedeutet nicht nur eine Schubkraft für den Konzern, sie bringt auch zusätzliche Stabilität. Mit der verlängerten Wertschöpfungskette können wir zyklische Marktschwankungen noch besser als schon bisher ausgleichen. Wir werden unsere Rohstoffe zunehmend veredeln, anstatt sie zu Kraftstoffen zu verarbeiten, und wir sind überzeugt, dass chemische Produkte und hochwertige Kunststoffe auch noch 2050 und weit darüber hinaus benötigt werden. Zudem können wir das hohe Synergiepotenzial aus der Zusammenarbeit der beiden Unternehmen nützen. Insofern ist diese Erweiterung der Wertschöpfungskette Grundlage eines langfristig erfolgreichen Geschäftsmodells.

„Strategische Ziele 2025 weitgehend erreicht.“

Deshalb also der Begriff „Erfolg“ im Rückblick auf 2020.

Wir haben vor drei Jahren mit der Strategie 2025 angekündigt, die OMV größer und wertvoller zu machen. Das haben wir bereits 2020 in großen Teilen erreicht und das kann man auch als Erfolg bezeichnen. Natürlich hat sich in diesen lediglich drei Jahren vieles um uns herum verändert. Deshalb müssen wir auch unsere Parameter überdenken. In der Strategie 2025 haben wir Größe und Wert im Wesentlichen nach Öl- und Gasreserven, Fördermengen und Raffineriekapazitäten bestimmt. Wir haben uns eine Verdoppelung der sicheren Reserven, eine Fördermenge von 600.000 Barrel pro Tag und eine Verdoppelung der Raffineriekapazitäten vorgenommen. Diese Ziele verfolgt die neue OMV nicht mehr.

Sondern?

Wir werden weiterhin genau auf unsere Reserven, Fördermengen und Raffineriekapazitäten achten und unsere tägliche Öl- und Gasförderung etwa auf dem heutigen Niveau von 450.000 bis 500.000 Barrel pro Tag mit Schwerpunkt Gas halten. Aber unsere Kennzahlen bekommen im Rahmen der Energiewende und der verlängerten Wertschöpfungskette zu höher veredelten Chemieprodukten einen neuen Kontext, ihre Bedeutung und ihr Gewicht werden sich verändern.

Stichwort Veränderung, da hat es im OMV Konzern neben der Borealis-Transaktion noch einiges mehr gegeben.

Eine strategische Neuausrichtung bedeutet ja nicht, dass man einfach wild draufloskauft. Man muss sich auch von Liebgewonnenem trennen und man muss Akquisitionen finanzieren. Wie von Ihnen angesprochen, haben wir 2020 nicht nur die Mehrheit an Borealis erworben, wir haben auch eine Vereinbarung über den Verkauf unserer Beteiligung an Gas Connect Austria an VERBUND, unseres Tankstellennetzes in Deutschland und des Upstream-Geschäfts in Kasachstan unterzeichnet.

Wenn man sich all das im Rückblick ansieht, dazu die Leistungen im operativen Business, und wenn man weiß, in welch belastendem Umfeld das alles erbracht wurde, dann versteht man, warum ich mir erlaubt habe, den Begriff „Erfolg“ zu nennen. Und dann zieht man auch den Hut vor den jetzt 25.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser neuen OMV.

Deshalb also der vierte von Ihnen genannte Begriff „Dankbarkeit“?

So ist es. Das Team OMV ist ein Team, auf das man sich verlassen kann. Und dabei geht es nicht nur um die „normale“ Performance, sondern auch um die extremen Herausforderungen durch Corona. Wer miterlebt hat, wie sich unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter postwendend auf die neue Situation und den von heute auf morgen auf den Kopf gestellten Arbeitsalltag eingestellt haben, der kann nur beeindruckt sein. In unterschiedlichen Teams wechselweise zu Hause oder im Büro arbeiten, in der kritischen Infrastruktur täglich vor Ort dafür sorgen, dass es die Menschen warm haben und sich bewegen können, die Wirtschaft mit Energie versorgt wird und die Grundstoffe für die Herstellung medizinischer Produkte verfügbar sind. All das hat reibungslos funktioniert, dank großer Flexibilität, Kreativität und großem Engagement. Wir haben die Versorgungssicherheit in diesem schwierigen Umfeld jederzeit sicherstellen, darüber hinaus aber auch alle unsere strategischen Projekte umsetzen können. Das verdient größte Anerkennung. Und dafür bin ich sehr dankbar.

„Mit Borealis den entscheidenden Schritt gesetzt.“

Sie haben das Thema Nachhaltigkeit genannt. Wie stellen Sie sicher, dass die neue OMV auch eine nachhaltigere OMV sein wird?

Wir wissen alle, dass es keinen Schalter gibt, den man einfach umlegt, und über Nacht ist die Welt CO2-frei. Als internationaler Öl- und Gaskonzern haben wir auch eine gesetzliche Verpflichtung, die Versorgung mit Energie sicherzustellen. Müssen wir diesen Auftrag erfüllen? Ja. Entbindet uns das von der Verpflichtung, unser Geschäft täglich nachhaltiger zu gestalten? Nein. Natürlich müssen wir alles tun, um ein Maximum an ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Ich denke, dass wir hier gerade mit der Borealis-Transaktion den entscheidenden Schritt erfolgreich gesetzt haben. Weil wir eben die OMV strategisch richtig auf die Anforderungen einer CO2-ärmeren Welt ausgerichtet haben.

2021 hat ähnlich herausfordernd begonnen, wie 2020 geendet hat. Was erwartet die OMV im laufenden Jahr?

Ich denke, wir werden pandemiebedingt zumindest im ersten Halbjahr ein weiterhin sehr herausforderndes Umfeld erleben. Das zweite Halbjahr sehe ich bereits deutlich positiver. Die Produktions- und Logistikprobleme bei den Covid–19-Impfungen sollten dann weitgehend gelöst sein, und das sollte zu einer stärkeren konjunkturellen Erholung führen.

Im Business erwarten wir in Upstream – abhängig von Libyen – eine Gesamtproduktion von rund 480.000 Barrel pro Tag und gehen von einer doch merkbaren Erholung der durchschnittlichen Rohöl- und Gaspreise aus. In Downstream sollten die Auslastung unserer europäischen Raffinerien etwa auf Vorjahresniveau und die Raffineriemarge über dem Niveau des Vorjahres liegen. Im Chemiegeschäft erwarten wir Ethylen- und Propylenmargen auf dem Vorjahresniveau. Für Borealis rechnen wir mit einem leichten Plus bei den Polyethylen-Volumina und gleichbleibenden Polypropylen-Mengen; die Margen sollten bei beiden über dem Vorjahresniveau liegen.

In Fortführung unserer Neuausrichtung wollen wir unser Tankstellengeschäft in Slowenien sowie das Düngemittelgeschäft von Borealis inklusive Stickstoff- und Melaminaktivitäten verkaufen. Zugleich haben wir für 2021 konzernweit, also einschließlich Borealis, organische Investitionen in der Höhe von 2,7 Milliarden Euro geplant – Investitionen in eine neue OMV.

Wien, am 10. März 2021

Rainer Seele e.h.

CCS Operatives Ergebnis vor Sondereffekten
Operatives Ergebnis vor Sondereffekten, bereinigt um Sondereffekte und CCS Effekte. Das Konzern CCS operative Ergebnis vor Sondereffekten stellt die Summe des CCS operativen Ergebnisses vor Sondereffekten von Downstream Öl, der operativen Ergebnisse vor Sondereffekten der anderen Geschäftsbereiche und den berichteten Konsolidierungseffekt, bereinigt um Änderungen von Wertberichtigungen – falls der Nettoveräußerungswert der Vorräte geringer ist als die Anschaffungskosten –, dar